Die Verspätung

 

Zugezogener Vorhand. Die für 20 Uhr angekündigte Vorstellung soll sich um exakt 43 Minuten verspäten. Angestellte des Theaters sollen nach 20 Minuten kleine Gläser mit warmen Wasser ausschenken, trockenes Gebäck anbieten und verkünden, dass es sicher bald losgehen werde, man wisse jedoch nicht, was los sei und bitte daher um Entschuldigung und noch etwas Geduld. Vereinzelt könnten die Angestellten (im Vertraulichen) die Gerüchte verbreiten, der Regisseur sei „exzentrisch“ und etwas depressiv, er habe sich gar am Nachmittag noch umbringen wollen. Zudem habe es wohl Streit zwischen einer Schauspielerin und dem Hauptdarsteller gegeben. Die Worte „Seitensprung“ und „aufgebrachte Ehefrau bei den Proben“ und „Syphilis“ sollen geflüstert werden.

Um 20.43 Uhr soll der Theaterleiter vor die Bühne treten und um Ruhe bitten (auch, wenn keine Unruhe herrschen sollte).

 

Theaterleiter (schmunzelt): „Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich begrüße Sie noch einmal zu Robert Klages Stück „Die Verspätung“. Passend zum Titel hat das Stück tatsächlich eine Verspätung. Wie Sie sicher schon wussten, handelt es sich hierbei um einen postmodernen, nun ja, sagen wir, Trick, der in das Stück eingearbeitet wurde. Man muss modernes acting nicht verstehen, aber ich möchte Sie bitten, noch etwas Geduld zu haben, der Vorhang wird sich alsbald heben.“

 

Ein Gast aus dem Publikum (Schauspieler): „Ey!!! Wir haben nicht fürs Warten bezahlt. Wir wollen unser Geld zurück.“

 

Ein zweiter Gast aus dem Publikum (ebenfalls Schauspieler): „Nun machen Sie aber mal halblang! Nur, weil Sie das Stück nicht verstehen, müssen Sie hier nicht so herumpöbeln.“

 

Theaterleiter: „Meine Herren, ich bitte Sie“

 

Gast 1 (schreit): „Was gibt es denn bitte an diesem Stück zu verstehen. Wir warten hier!!! Gestandene 44 Minuten schon. Glauben Sie ich habe nichts Besseres zu tun? Ich habe Frau und Kind!“

Gast 2 schweigt.

 

Gast 1: „Wenn das modernes Theater sein soll, dann bin ich aber der Kaiser von China!“

 

Gast 2: „Haben Sie nie Warten auf Godot gesehen?“


Gast 1: „Selbstverständlich. Aber da passiert ja wenigstens etwas auf der Bühne. Hier passiert gar nichts.“

 

Theaterleiter: „Meine Herren, ich darf doch sehr bitten.“

 

Sollten sich Gäste aus dem tatsächlichen Publikum in die Diskussion einschalten, muss improvisiert werden.

 

Gast 2: „Oder Ionesco? Ist bei seinen Stücken jemand aufgesprungen und hat protestiert?“

 

Gast 3 (eine Frau): „Hören Sie bitte. Ich habe hier Eintrittsgeld bezahlt und das Stück „Die Verspätung“ von Robert Klages zu sehen. Und nicht, um Ihnen beiden hier beim Streiten zuzuhören.“

 

Gast 1 und Gast 2 lachen lautstark.

 

Gast 2: „Gute Frau. Verstehen Sie denn nicht, dass das Stück längst begonnen hat? Wir zwei hier sind Schauspieler und es handelt sich um modernes Theater!“

 

Gast 1 (brüllt): „Wen nennen Sie hier einen Schauspieler? Also ich bin kein Schauspieler!“

 

Gast 2 (beruhigend): „Das gehört alles bereits zum Stück, meine Damen und Herren. Wir sind mittendrin. Genießen Sie die Show.“ (Er breitet die Arme aus wie ein Zoo-Direktor)

 

Gast 1 (explodiert): „Wenn du mich noch einmal Schauspieler nennst, reiß ich dir den Arsch auf!!“

 

Theaterleiter: „Meine Herren, meine Herren. Ich darf doch sehr bitten.“

 

Gast 1: „Sie!! Sagen Sie den Leuten, dass ich kein Schauspieler bin. Ich bin nur ein Zuschauen und möchte ein Stück sehen. Dass es sich hier um kein gewöhnliches Stück handelt, nun, dessen war ich mir bewusst. Aber ich möchte wenigsten etwas sehen. Und ich bin weiß Gott kein Schauspieler. Dazu fehlt mir das Talent! Gehört das auch zu Ihrem Stück?? Jemandem aus dem Publikum hier öffentlich fertig zu machen? Soll das hier so Mitmachtheater werden? Und ich muss jetzt ran, weil ich als erster aufgestanden bin? Ist es so, ja?“

 

Theaterleiter: „Mein Herr, bitte beruhigen Sie sich.“

 

Gast 2: „Liebe Damen und Herren. Das Stück besteht einzig und allein in dem Streit zwischen mir und dem da (zeigt auf Gast 1). Sagen Sie es, Herr Theaterleiter.“

 

Theaterleiter: „Mir liegt kein Skript vor. Man sagte mir allerdings, dass es sich um ein sehr modernes Stück handeln würde, das in der Tat nur im Publikumsraum stattfinden soll. Mehr weiß ich leider auch nicht. Aber ich würde Sie bitten …“

 

Gast 1 (hält seine Eintrittskarte in der Hand): „Hier! Sehen Sie, ich bin kein Schauspieler. Ich habe für dieses Stück acht Euro bezahlt.“

 

Gast 2: „Sagen Sie den Leuten doch mal, was Sie von Beruf sind, Herr Albrecht.“


Gast 1: „Woher kennen Sie meinen Namen!! Das ist ja ..."

Gast 2: „Sagen Sie es den Leuten. Nun, sagen Sie es. Sagen Sie ihren Text. Jetzt. So, wie er im Manuskript steht. Oder brauchen Sie eine Souffleuse?“

 

Der Theaterleiter lacht lauthals.

 

Gast 1: Das ist unverschämt. Jemanden hier so niederzumachen, nur, weil er sich auflehnt. Sie haben mich anscheinend gut ins Stück integriert. Aber was hätten Sie eigentlich gemacht, wenn ich nicht aufgestanden wäre? Was wäre dann aus Ihrem Stück geworden? Aber nun gut, meinen Namen scheinen Sie zu kennen. Vielleicht haben Sie ihn an der Abendkasse erfahren oder so, ich weiß es nicht. Und es gefällt mir auch nicht. Aber ja, mein Name ist Johannes Albrecht, ich bin Student der Akademie der Künste in Berlin und studiere dort Schauspiel und Dramaturgie. Aber ich habe mit diesem hier anscheinend stattfindenden Theaterschauspiel, oder wie auch immer Sie das hier nennen mögen, nichts zu tun. Das können Sie mir glauben.“

 

Gast 2: „Ein Schauspieler sind Sie. Ebenso wie ich. Ein Schauspieler, der seinen Text aufsagt. Und mehr als das werden Sie auch niemals sein.“

 

Gast 1: „Das muss ich mir jawohl nicht bieten lassen! Ich werde …"

 

Theaterleiter: „Psst. Man signalisiert mir gerade, dass das Stück nun anfangen könne.“

 

 

Der Vorhang hebt sich und die zwei Gäste sowie der Theaterleiter treten auf die Bühne und verneigen sich. Der Vorhang fällt.